Dass das Wahrnehmen von Musik nicht von kognitiven Fähigkeiten abhängt, dafür ist Livio ein eindrückliches Beispiel. Der 18-Jährige zeigte schon als Baby ein unglaubliches Gespür für Musik. Die Wunscherfüllung der Sternschnuppe war ein Impuls für seine musikalische Weiterentwicklung.
«Er liebte es,» erinnert sich seine Mutter Rahel, «wenn sein grosser Bruder mit ihm auf den Knien Klavier spielte oder ihn auf den Resonanzkasten des Flügels legte.» Livio war rund vier Monate alt, als die Eltern die ernüchternde Diagnose erhielten: partieller Balkenmangel. Niemand wusste, wie er sich entwickeln würde. Die Familie unternahm alles, um ihn mithilfe von Tönen und Musik aus der Reserve zu locken. Er war gut eineinhalb Jahre alt, als ihn seine Mutter vor dem Radio liegend fand, wie er – absolut im Takt – ein Vivaldi-Konzert dirigierte. Kaum konnte er sich am Klavier hochziehen, begann er zu spielen. Als er mit vier Jahren seine Musiktherapie begann, war die Therapeutin von seiner Musikalität und seinem unglaublichen Rhythmusgefühl begeistert.
Ein kleiner grosser Musikant
Beim Konzert einer Blasmusik, Livio war neun Jahre alt, näherte er sich dem Dirigenten, bis dieser ihm den Stab in die Hand drückte und ihn aufforderte, das Stück fertig zu dirigieren. Für Livio war das kein Problem, er strahlte übers ganze Gesicht. Dieses eindrückliche Erlebnis war der Auslöser für den Wunsch an die Sternschnuppe.
Ein Jahr später war es soweit; Livio durfte einen Vormittag mit dem Tonhalle-Orchester Zürich verbringen. Nach der Besichtigung der verschiedenen Proberäume folgte die Hauptprobe für den «Karneval der Tiere», ein Stück, das er kannte. Der kleine Musikus verblüffte durch sein Rhythmusgefühl an der Trommel und neben dem Xylophon, wo er mit den Schlägern auf dem Tisch spielte. Es war wohl einer der grössten Momente in seinem Leben, als er am Konzert am folgenden Tag bei einem Stück an der grossen Trommel mitspielen durfte. «Die Familie war zu Tränen gerührt,» erinnert sich Rahel Graber, «glücklich und stolz zu sehen, wie unser Livio inmitten des Tonhalle-Orchesters stand und den Riesenapplaus genoss.»
Selber spielen können
Nach diesem Ereignis war es für die Eltern klar, dass Livio Musikunterricht bekommen sollte. Es fand sich ein geduldiger Musiklehrer, der Livio am Schlagzeug unterrichtete. Auch er war erstaunt über das Talent und das eindrückliche Rhythmusgefühl des Jungen.
Nach sechs Jahren Schlagzeugunterricht empfahl sein Lehrer einen Wechsel zum Marimbaphon, damit Livio klassische Musik – seine grosse Leidenschaft – selbst spielen kann. Die Eltern zögerten, aber der Musiklehrer glaubte an Livio. Heute spielt er bereits anspruchsvolle Werke auf seinem Rieseninstrument. Einmal pro Woche hat er Unterricht und übt mit Hingabe. Noch mehr Zeit als am Marimbaphon verbringt er jedoch am Flügel, wo er jede Musik nachspielt, die ihm gerade durch den Kopf geht.
Alltag
Livios Leben besteht nicht nur aus Musik. Wochentags arbeitet er in der Küche eines Werkheims, wo er eine interne Lehre absolviert. Wenn er nicht gerade musiziert, verbringt er seine Freizeit oft mit einem Buch in der Hand. Mit seinem Handy schreibt oder telefoniert er regelmässig mit seinen erwachsenen Geschwistern, recherchiert zu seinen Lieblingsthemen oder hört, wie könnte es anders sein, klassische Musik.